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Wenn Buchstaben vor den Augen tanzen

Wenn Buchstaben vor den Augen tanzen

Wie Kinder mit einer LRS – aber auch mit einer Dyskalkulie – von der Funktionaloptometrie profitieren können

Vor mir sitzt ein sehr intelligentes Kind und kämpft mit den Buchstaben – mit den Worten. Es ist zäh und mühsam, einen Satz zu lesen. Buchstaben werden verwechselt: aus b wird d, aus q wird p, aus m ein w. Oder aber es gibt ständig sogenannte Zahlendreher, ein großes E statt einer 3, Zahlen, die nicht sicher erkannt oder gelesen werden.
Mir fällt auf, dass das Kind sehr nah über dem Buch sitzt. Es wirkt angestrengt, fast verzweifelt.

Spätestens jetzt rate ich den Eltern dringend, mit ihrem Kind zu einem Funktionaloptometristen zu gehen.
Oft bestätigt sich mein Verdacht: Ein Visualtraining ist notwendig.

Nach ein paar Wochen Training berichten die Kinder dann:
„Die Buchstaben sind vorher immer herumgehüpft!“ – „Sie sind nie stillgestanden, ich konnte gar nicht so schnell sehen, was da steht.“
Manche Kinder blinzeln ständig, andere reiben sich die Augen oder verlieren beim Lesen die Zeile. Viele sind nach der Schule erschöpft, kommen mit Kopfschmerzen nach Hause.

Dass Buchstaben „tanzen“, „verschwimmen“ oder „davonlaufen“, hat nicht immer nur mit Sprache oder Rechtschreibung zu tun – sondern häufig auch mit den Augen selbst, genauer gesagt mit der Art und Weise, wie sie zusammenarbeiten.

Lesen ist Hochleistungssport für die Augen

Beim Lesen müssen die Augen eine ganze Menge gleichzeitig leisten:
Sie müssen präzise fixieren, schnell und kontrolliert von Wort zu Wort springen, beide Bilder beider Augen zu einem Gesamtbild verschmelzen und dabei fokussiert bleiben.

Wenn nur eines dieser Zahnrädchen nicht richtig greift, wird Lesen anstrengend.
Das Kind sieht also gut, aber es liest nicht effizient.

Das ist ein bisschen, als würde man mit zwei ungleich langen Skiern fahren: Man kommt voran – aber es kostet Kraft und Konzentration.

Wenn das visuelle System aus dem Takt gerät

Kinder mit einer LRS, mit Leseproblemen oder mit einer Dyskalkulie zeigen manchmal Anzeichen, die auf Schwierigkeiten im visuellen System hinweisen:

  • Sie verlieren beim Lesen die Zeile oder springen in der Zeile hin und her.
  • Sie lassen Wörter aus oder lesen dieselbe Zeile zweimal.
  • Sie klagen über Kopfschmerzen, müde Augen oder Schwindel.
  • Sie lesen nur kurze Texte, bevor sie ermüden oder unruhig werden.
  • Sie scheinen „unaufmerksam“, obwohl sie sich eigentlich anstrengen.
  • Sie sitzen sehr dicht über dem Heft oder Buch.
  • Sie kommen völlig erschöpft von der Schule und brauchen lange Auszeiten.

Solche Symptome werden leicht mit Konzentrationsproblemen oder Motivationsmangel verwechselt. Dabei können sie auf funktionale Sehprobleme hindeuten – also auf Schwierigkeiten in der Koordination und Steuerung der Augen.

Funktionaloptometrie – was ist das eigentlich?

Hier kommt die Funktionaloptometrie ins Spiel.
Sie ist ein Spezialgebiet der Optometrie, das sich nicht nur mit der Sehstärke (also wie scharf jemand sieht), sondern mit der Funktionsweise des gesamten visuellen Systems beschäftigt.

Ein Funktionaloptometrist untersucht zum Beispiel:

  • wie gut die Augen zusammenarbeiten (binokulare Koordination),
  • wie präzise und flüssig die Augenbewegungen beim Lesen sind,
  • wie schnell die Augen scharf stellen (Fokussierung),
  • wie visuelle Informationen im Gehirn verarbeitet werden.

Wenn in diesen Bereichen Schwächen sichtbar werden, kann ein gezieltes Visualtraining helfen.
Das sind spezielle Sehübungen, die wie ein „Training für die Augenkoordination“ funktionieren – individuell abgestimmt und oft mit erstaunlichen Effekten.

Ich habe im Laufe der Jahre bei fast allen Kindern, die in meiner Lerntherapie begonnen haben, geraten, zuerst die Augen funktionaloptometrisch untersuchen zu lassen. Bei sehr vielen Kindern wurde ein Visualtraining empfohlen.

Und ich habe erlebt, was sich danach verändert:
Beispielsweise das Kind vom Anfang dieses Artikels – heute liest es blitzschnell, gewinnt bei Lesespielen und liest mit Freude.
Die Kinder werden sicherer, entspannter, freier im Lesen. Die Handschrift wird klarer, bleibt auf den Linien. Ausschneiden, Zeichnen, Schreiben – plötzlich gelingt all das präziser.

Es ist ein sichtbares Vorher und Nachher.
Die Fähigkeit, sich zu konzentrieren und aufmerksam zu bleiben, ist dann meist kein Thema mehr. Der „Energiefresser“ ist verschwunden.
Denn die Kinder müssen nicht mehr ihre ganze Kraft ins Erlesen jedes einzelnen Wortes oder jeder Zahl stecken – das Gehirn hat endlich freie Kapazität.

Wir können uns kaum vorstellen, wie viel Energie und Konzentration diese Kinder zuvor aufbringen mussten, um trotz der visuellen Schwäche zu lesen.
Was für ein Kampf – und welche Hochleistung des Gehirns!

Wann lohnt sich eine funktionaloptometrische Untersuchung?

Eine Abklärung kann sinnvoll sein, wenn ein Kind:

  • beim Lesen auffällig schnell ermüdet,
  • Zeilen verliert, Buchstaben vertauscht oder Wörter nicht zu Ende liest,
  • über Kopfschmerzen oder Druck hinter den Augen klagt,
  • scheinbar „träumerisch“ oder abwesend wirkt,
  • trotz Förderung kaum Fortschritte macht.

Ein normaler Sehtest beim Augenarzt oder Optiker prüft meist nur die Sehschärfe – also, ob das Kind „gut sieht“.
Er kann jedoch nicht erfassen, wie die Augen beim Lesen zusammenarbeiten.
Hier setzt die Funktionaloptometrie an.

Wenn Lerntherapie und Funktionaloptometrie sich ergänzen

Gerade Kinder mit LRS profitieren, wenn sprachliche und visuelle Förderung Hand in Hand gehen.
Lerntherapeuten trainieren phonologische Bewusstheit, Leseflüssigkeit und Rechtschreibstrategien – und die Funktionaloptometrie stärkt die visuelle Grundlage dafür.

Wenn das Sehen weniger Energie kostet, bleibt mehr Aufmerksamkeit fürs Lesen selbst.

Auch bei Kindern mit einer Dyskalkulie oder einem Verdacht auf AD(H)S lohnt sich eine Untersuchung. Ich habe mehrfach erlebt, dass Schwächen in der Augenkoordination die Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme mitverursacht haben. Nach dem Visualtraining verbesserten sich diese deutlich.

Viele Eltern berichten, dass ihr Kind nach einigen Wochen Training entspannter liest, länger durchhält und seltener über Kopfschmerzen klagt.
Und ganz nebenbei steigt die Lernfreude – weil Lesen sich endlich nicht mehr, wie ein Kampf anfühlt.

Wichtige Hinweise für Eltern und Lehrkräfte

  • Funktionaloptometrische Untersuchungen sind in Deutschland keine Kassenleistung.
  • Nicht jedes Kind mit LRS, Dyskalkulie oder AD(H)S hat visuelle Schwierigkeiten – aber wenn Leseschwierigkeiten, Aufmerksamkeitsprobleme oder Zahlendreher hartnäckig bestehen bleiben, lohnt sich eine Abklärung.
  • Seriöse Funktionaloptometristen erklären ihre Befunde verständlich, arbeiten transparent und schlagen nur sinnvolle Übungen vor.

Fazit: Wenn Buchstaben tanzen, lohnt sich ein zweiter Blick

Kinder, die mit Buchstaben, Wörtern oder Zahlen kämpfen, tun das nicht freiwillig. Kein Kind ist absichtlich unkonzentriert oder unaufmerksam.
Manchmal liegt der Schlüssel zum besseren Lesen nicht allein in der Sprachverarbeitung, sondern im Zusammenspiel der Augen.

Die Funktionaloptometrie kann hier ein wertvolles Puzzlestück sein – als Ergänzung zur Lerntherapie, nicht als Konkurrenz.
Denn wenn die Augen wieder im Takt sind, beginnen auch die Buchstaben stillzustehen – und Lesen kann endlich leichter werden.
Dann kann ein Kind sich konzentrieren, seine Hausaufgaben schneller erledigen – und so mancher Stress oder Streit am Nachmittag bleibt einfach aus.

Infobox: Woran Eltern und Lehrkräfte denken können

Typische Anzeichen, dass die Augen beim Lernen „überfordert“ sind:

  • Das Kind verliert beim Lesen oft die Zeile oder springt zurück.
  • Es liest mit dem Finger oder Lineal mit, um die Zeile zu halten.
  • Buchstaben verschwimmen oder „tanzen“.
  • Das Kind hält den Kopf schief oder verdeckt ein Auge.
  • Es vermeidet Lesen oder Rechnen, obwohl es sich Mühe gibt.
  • Es ist nach dem Lesen erschöpft, gereizt oder klagt über Kopfschmerzen.
  • Es verwechselt Ziffern oder Buchstaben, schreibt spiegelverkehrt oder in wechselnden Größen.
  • Es kann nicht auf der Linie schreiben, die Kästchen in den Matheheften sind zu klein für die Größe der Zahlen.
  • Es kann nicht ordentlich ausschneiden.
  • Es ist scheinbar schnell unkonzentriert und/oder unaufmerksam.

Hilfreiche Fragen für Eltern und Lehrkräfte:

  • Wie nah sitzt das Kind beim Lesen oder Schreiben am Blatt?
  • Kann es längere Zeit fokussieren, oder wird es schnell unruhig?
  • Wirkt es beim Lesen angestrengt, blinzelt oder kneift die Augen zusammen?
  • Hat es Schwierigkeiten, von der Tafel ins Heft zu übertragen?

Wenn Sie bei mehreren Punkten mit „Ja, stimmt“ antworten sollten, kann eine funktionaloptometrische Untersuchung sinnvoll sein.
Sie ersetzt keine Lerntherapie – aber sie kann die Basis schaffen, damit Förderung überhaupt greifen kann.

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