Projekt Rückenwind: ein Politikum für die Bildungschancen unserer Kinder.

Momentaufnahme

In genau einem Monat ist Weihnachten. Dann sind Schulferien.

Während die meisten Kinder mit Vorfreude auf die kommenden Ferien blicken, werfen die anstehenden Feiertage auch einen langen Schatten auf die Realität der Lerntherapie an der örtlichen Grund- und Gemeinschaftsschule, ebenso auf etliche Schulen in unserem Land.

Ich arbeite seit Mitte September mit 10 Kleingruppen an der hiesigen Schule als Lerntherapeutin. Ich arbeite mit Kindern, die eine Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) oder eine Dyskalkulie haben, die nicht lernen können, sich nicht konzentrieren können.

Die Eltern sind dankbar, dass so niederschwellig das Angebot an der Schule besteht, dass ihr Kind zeitnah gefördert werden kann. Ohne mindestens 1 ½ Jahre auf einen Therapieplatz warten zu müssen. Sie schätzen es, dass innerhalb der Schulstunden die Förderung stattfindet.

Und ich als Lerntherapeutin finde es super, dass ich den Kindern innerhalb der Schule helfen kann, auf die unterschiedlichste Art und Weise. Vorgestern galt es einen Konflikt zu besprechen, Handlungsoptionen aufzuzeigen. Zu bestätigen, zu stärken. An einem anderen Tag ging es darum, dass jeder Mensch Stärken hat – und dass es wichtig ist, auf diese Stärken zu schauen. Und es ging um negative Glaubenssätze wie „ich bin zu dumm, ich schaff das eh nie.“ Und darum, was die negativen Glaubenssätze mit uns und unseren Gefühlen machen. Und dass es viel besser ist, wenn wir uns positive Glaubenssätze suchen. Diese positiven Gedanken schrieben wir auf Kritzelpapierkärtchen. Eines jeweils für das Kind und eines für das Schulzimmer. Das war eine tolle Stunde, ehrlich, direkt, kreativ. In einer anderen Stunde erzählten mir Kinder von ihren Schwierigkeiten, Krankheiten, Anfällen.

Und natürlich geht es immer auch um Lernen, Rechnen, Schreiben, Lesen, Rechtschreibregeln, Strategien, Methoden…… Und um Spiele, Schätzen, Quatsch machen, zusammen lachen.

Diese niederschwellige Förderung ist jedoch (noch) nicht selbstverständlich, sie steht sogar auf der Kippe. Die Unsicherheit über die Zukunft des Projekts Rückenwind und damit der Finanzierung der Lerntherapie in unseren Schulen hat weitreichende Auswirkungen auf das gesamte Schulsystem. Für Schulleitung wie auch für uns LerntherapeutInnen besteht keine Planungssicherheit für das Jahr 2025.

Es ist noch ein Monat bis Weihnachten.

Und immer noch nicht wissen wir LerntherapeutInnen, die wir in den Schulen arbeiten, wie und ob es weitergeht. Bisher ist alles immer noch absolut unklar. Manche gehen davon aus, dass es weiter geht. Andere verfolgen mit besorgter Miene die Nachrichten, die so langsam eintrudeln. Die Haushaltsplanung für 2025/2026 wurde verschoben auf den 18.12.2024. Wie dann entschieden wird, wissen wir heute noch nicht. Wie schnell dann überall Bescheid gegeben werden kann, wissen wir LerntherapeutInnen auch nicht. Denn ganz realistisch, wenn die Beratung tatsächlich am 18.12.2024 stattfindet, die Entscheidung tatsächlich zu diesem Datum gefällt wird, bis wann ist es logistisch möglich, dass Schule und wir LerntherapeutInnen dann Bescheid bekommen? Wie verabschiede ich mich von den Kindern in der letzten Schulwoche vor den Ferien? Wie plane ich weiter? Wie bereite ich mich vor? Soll ich noch etwas vorbereiten für das neue Jahr oder ist das Projekt Rückenwind, über das wir und unsere Arbeit finanziert wird, damit zu den Akten gelegt, beendet?

Ist es wirklich akzeptabel, dass die Zukunft der Unterstützung für Kinder, die auf spezialisierte Förderung angewiesen sind, von bürokratischen Prozessen und politischen Entscheidungen abhängt? Diese Fragen sind nicht nur für uns LerntherapeutInnen und die Schulleitungen entscheidend; sie betreffen jeden, der an einer Änderung der Bildungspolitik interessiert ist.

Wie kann ich meinen mir anvertrauten Kindern und Jugendlichen in die Augen schauen in dieser letzten Woche vor Weihnachten, wenn ich gar nicht weiß, ob ich sie im neuen Jahr weiter begleiten und unterstützen kann?

Ich höre von so vielen Seiten, wie wichtig meine Arbeit an der Schule ist. Eltern kommen bei Schulfeiern, oder auch hier im Dorf, auf mich zu und drücken ihre Dankbarkeit und Erleichterung aus, dass sie und ihre Kinder eine Anlaufstelle haben. Eine Anlaufstelle für diese schulischen, aber auch seelischen Schwierigkeiten und Probleme, die einen Familienalltag sehr belasten können.

Die LehrerInnen kommen auf mich zu, brauchen Unterstützung. Sie sind froh, nicht mehr nur alleine die Verantwortung für die Kinder zu haben, sondern sie können sich jetzt mit mir austauschen, wir können uns überlegen, was speziell für dieses Kind der beste Weg sein könnte, was zu beachten ist…

Es ist ein Monat vor Weihnachten – und ich kann nicht verstehen und es auch nicht fassen, dass mit unseren Kindern, unserer Zukunft so umgegangen wird. Wir wissen nicht, ob und wie es weitergehen wird. Wir wissen nicht, wann tatsächlich entschieden wird. Wir wissen nicht, wann wir Bescheid bekommen, ob es weitergeht.

Ich wohne hier am Ort. Wie erkläre ich dann, wenn es nicht weitergeht, wenn das Projekt Rückenwind nicht fortgeführt wird, bzw. wenn es nicht eine adäquate andere Finanzierungsquelle gibt, wie erkläre ich dann den Kindern, denen ich begegnen werde, warum ich nicht mehr komme? Warum ich ihnen nicht mehr helfe? Warum ich nicht mehr an der Schule bin?

Wie gehen Politiker mit der Gegenwart und Zukunft unserer Kinder um, wenn sie uns in diesen Unsicherheiten lassen? Was passiert, wenn diese Finanzierung gekappt wird? Die Lerntherapeutenpraxen können die Flut der bedürftigen Kinder nicht auffangen. Die Nachmittagsstunden sind begrenzt. Abends um 20.00 Uhr kann ich von keinem Kind mehr verlangen, dass es aufnahmefähig ist, dass es sich noch etwas merken kann.

Ich appelliere an jeden, der mitverantwortlich ist an der Entscheidung, dass das Projekt Rückenwind fortgeführt wird und in welchem Umfang die Finanzierung sein wird, dass er zum Wohle unserer Kinder entscheidet. Ich fordere jeden auf, der mitentscheidet, dass er für 2 Minuten die Augen schließt und sich überlegt, was an Unterstützung an den Schulen verloren geht, wenn wir LerntherapeutInnen im Januar 2025 unsere Arbeit nicht mehr fortführen können, weil es keine Finanzierung dafür gibt.

Es ist frustrierend für die Kinder da sein zu wollen aber in unseren Möglichkeiten durch diese Unsicherheiten eingeschränkt zu werden. Denn es geht auch um Bildungsgerechtigkeit in Deutschland. Es muss eine dauerhafte und verlässliche Unterstützung für benachteiligte Schüler gewährleistet werden.

Am 18. Dezember 2024 mag eine Entscheidung fallen, die das Schicksal des Projekts Rückenwind bestimmen könnte. Doch es ist an der Zeit, dass diese Entscheidung nicht nur die unmittelbare Zukunft einer Schule beeinflusst, sondern als Weckruf für alle Verantwortlichen dient: Die Bildung und Entwicklung unserer Kinder müssen an oberster Stelle stehen. Denn letztendlich ist es nicht nur eine Frage der Therapieform, sondern eine grundlegende Frage der gesellschaftlichen Verantwortung.

In einem Monat ist Weihnachten.

Ihre

Sabine Walker

Weitere Artikel über Lerntherapie in der Schule finden Sie auf meiner Homepage.

Sowie Artikel über Lerntherapie in der Schule und zur aktuellen Situation bei meiner Netzwerk-Kollegin Susanne Seyfried